Digitale Organisationsidentitäten als Katalysator für nachhaltige Finanzen

Von KYC zu ESG: Digitale Organisationsidentitäten und verifizierbare ESG-Metriken als Prozessgrundlage für grünen Finanzen.

Carsten Stöcker
7 min readSep 8, 2023

Einleitung

In unserer zunehmend digitalisierten und nachhaltigkeitsorientierten Welt gewinnen digitale Organisationsidentitäten an Bedeutung, insbesondere im Kontext der Finanzbranche. Diese Identitäten ermöglichen es Unternehmen, verifizierbare Informationen über ihre Geschäftspraktiken, einschließlich KYC und ESG-Metriken (Environmental, Social, Governance), sicher und effizient mit Finanzinstituten zu teilen. Dies ist nicht nur ein Schritt in Richtung einer transparenteren und effizienteren Finanzwelt, sondern auch ein entscheidender Faktor für die Umsetzung von gesetzlichen Regelungen, nachhaltigen Finanzstrategien, nachhaltigkeitsorientierter Risikostrategien mit ESG-Bezug, neuer Scoring Ansätze in der Kreditvergabe, der Transformationsfinanzierung und der Etablierung authentischer Green Bond Markets.

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Bitkom erarbeitet, Quelle: Ihren Ausweis bitte: Digitalisierung von Identitäten | Publikation 2023 | Bitkom e. V.

bitkom — Digitalen Unternehmensidentitäten #3: Organisationsidentitäten als Katalysator für nachhaltige Finanzen, Carsten Stöcker, Spherity GmbH

1. Organisationsidentitäten im digitalen Zeitalter

Bei Transaktionen zwischen Unternehmen und der Finanzwirtschaft sind Organisationsidentitäten mehr als nur ein Firmenname, eine Handelsregisternummer, eine Prüfung der Eigentümerkontrollstruktur oder Abklärung der wirtschaftlichen Berechtigten. Sie sind ein Geflecht aus verschiedenen Attributen, die eine Organisation in regulierten Prozessen und digitalen Ökosystemen eindeutig identifizieren und diese im Sinne eines Unternehmens-Scoring bewertbar macht. Dazu gehören nicht nur grundlegende Informationen wie der Unternehmenssitz oder die Branche, sondern auch spezifische Metriken, die die wirtschaftliche Leistung, die KYC/AML Compliance und die Nachhaltigkeitspraktiken des Unternehmens darstellen.

Die Bedeutung von digitalen Organisationsidentitäten wird in den kommenden Jahren signifikant zunehmen. Sie sind für Interaktionen mit Kunden und Lieferanten und insbesondere im Finanzsektor für die Automatisierung von KYC-, AML-, ESG-Compliance in Onboarding-Prozessen wichtig. Banken, Versicherungen und Aufsichtsbehörden werden diese digitalen Identitäten nutzen, um ein verifizierbares Bild einer Organisation zu erhalten, das darüber hinausgeht, was die Auswertung traditioneller Papier- und PDF-Dokumente heute bieten kann.

Der KYC-Prozess ist ein wesentlicher Bestandteil der Kundenbeziehung in der Finanzindustrie. Er dient sowohl der Erfüllung regulatorischer Anforderungen als auch der Risikominderung. In der Vergangenheit basierte dieser Prozess hauptsächlich auf physischen Dokumenten, Informationen von Datenbrokern und manuellen Abgleichen mit den Unternehmens- und Transparenzregistern der Registerführenden wie dem Bundesanzeiger in Deutschland. Die Digitalisierung hat jedoch neue Möglichkeiten eröffnet, Geschwindigkeit und Genauigkeit dieses Prozesses zu steigern. Die Unternehmens- und Transparenzregister des Bundesanzeiger Verlages sind beispielweise heute schon voll digitalisiert. Allerdings gibt es einen Medienbruch zwischen diesen volldigitalisierten Registern und den Prozessen einer Bank, sodass in der Bank heute viele Daten in mühevoller Arbeit durch KYC-Analysten manuell bearbeitet werden. Dieser Medienbruch soll nun mit Hilfe von Organisationsidentitäten und verifizierbaren Nachweiszertifikaten aufgelöst werden.

Digitale Organisationsidentitäten für Unternehmen können so den KYC-Prozess erheblich vereinfachen und beschleunigen. Durch die Verwendung von verifizierbaren digitalen Nachweiszertifikaten, die von der registerführenden Primärquelle, dem Bundesanzeiger Verlag ausgestellt werden, können Banken schnell und präzise die KYC-Anforderungen an ihre Kunden überprüfen. Dies reduziert nicht nur Zeitaufwand und Kosten im Onboarding sondern auch für anlassbezogene und periodische Reviews des KYC-Datenbestandes einer Bank nach GWG §10.3a, z.B. der Datenaktualisierung bei bestehenden Geschäftsbeziehungen.

Darüber hinaus ermöglichen digitale Organisationsidentitäten zukünftig eine Integration weiterer relevanter Metriken in KYC- und Scoring-Prozesse, einschließlich ESG-bezogener Daten, die von vertrauensvollen Auditoren, Behörden oder Steuerberatern ausgestellt wurden.

2. EUDI-Wallet für Organisationen: Ein Paradigmenwechsel

Die eIDAS 2.0 Verordnung spielt eine große Rolle bei der Verbreitung von digitalen Organisationsidentitäten. Sie schafft einen harmonisierten Rechtsrahmen für elektronische Identifikation und Vertrauensdienste innerhalb der Europäischen Union. Dies ist besonders relevant für das European Digital Identity Wallet (EUDI-Wallet). In den aktuellen (deutschen) Konsultationsprozessen zum EUDI-Wallet wird von vielen Akteuren erkannt, dass das EUDI-Wallet nicht nur für natürliche, sondern auch für juristische Personen eine Lösung bereitstellen soll. Allerdings stecken die Konzept- und Standardisierungsarbeiten zum EUDI-Wallet für juristische Personen noch in den Anfängen, weswegen dringend empfohlen wird für die nächsten 4–5 Jahre eine Übergangslösung für Organisationsidentitäten zu etablieren, die sich Schritt für Schritt in Richtung einer EUDI-Wallet für Organisationsidentitäten entwickelt.

Das EUDI-Wallet stellt eine digitale Plattform dar, die im Sinne der EU-Datenstrategie den jeweiligen Akteuren die Souveränität über ihre eigenen Daten bietet, ohne diese Daten per se mit einem zentralen Identitäts-Plattformbetreiber teilen zu müssen. Somit wird das EUDI-Wallet für Organisationen und das Konzept der Datensouveränität zu einer wesentlichen Verbesserung der Vertraulichkeit im Geschäftsverkehr beitragen.

Wallets für Organisationsidentitäten gehen über die bloße Speicherung von Basisinformationen zur Unternehmensidentität hinaus. Sie ermöglichen die Integration von Nachweisen und Metriken, einschließlich finanzieller Kennzahlen, Trade Compliance, Betriebsdaten, TÜV-Zertifikate und ESG-bezogener Metriken. Die im Wallet gespeicherten Informationen und Zertifikate können in Echtzeit durch einen Geschäftspartner, eine Bank oder Behörde verifiziert werden. Das EUDI-Wallet ist somit ein Katalysator für effizientere und sicherere Geschäftsprozesse im Finanzsektor.

3. Sustainable Finance Use Case

Die EU-Regulierungen wie

  • die Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor (SFDR),
  • die Verordnung über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen (EU-Taxonomie) oder
  • die Nichtfinanziellen Berichterstattungspflichten (NFRD)

erhöhen die Anforderungen an transparente und überprüfbare ESG-Metriken in der Finanzwelt. Diese Regulierungen beeinflussen die Kreditvergabe, da Banken nun ESG-Metriken in ihre Risikobewertungen integrieren müssen. Unternehmen mit guten, verifizierbaren ESG-Metriken könnten dadurch bessere Kreditkonditionen erhalten während Unternehmen, die weder digital noch nachhaltig agieren gemäß den Leitlinien der Risikostrategie einer Bank deutlich schlechtere Kreditangebote bekommen werden.

Diese Regulierungen verlangen von Unternehmen, transparente und überprüfbare Daten zu liefern. Wallet-basierende digitale Organisationsidentitäten bieten hier eine exzellente Lösung. Sie ermöglichen eine schnelle und sichere Überprüfung der ESG-Metriken, die ein Unternehmen an die Bank übermittelt, sodass die Bank die Authentizität und Gültigkeit der Aussagen zu ESG-Metriken maschinell überprüfen kann. Bei Kreditanträgen können die Banken, die so erhaltenen Daten automatisch verifizieren und in einen umfassenden Kreditscore einfließen lassen. Ohne diese digitalen Werkzeuge wird das Backoffice der Banken mit der enormen Datenmenge, dem manuellen Prüfungsaufwands und der Komplexität der Verifizierungsprozesse in der neuen Welt von ESG-Metriken und regulatorischen Vorgaben hoffnungslos überfordert sein.

Die Automatisierung des Kreditbewertungsprozesses durch verifizierbare Nachweiszertifikate bietet nicht nur Effizienzvorteile durch einem reduzierten manuellen Prüfaufwand, sondern trägt auch zur Vermeidung von Betrug und Greenwashing bei. Durch die direkte Verknüpfung von ESG-Metriken aus vertrauenswürdigen Quellen mit der Kreditwürdigkeit eines Unternehmens werden Manipulationen und Falschangaben deutlich erschwert. Dies stärkt die Integrität des gesamten Sektors, der sich zunehmend auf nachhaltige Finanzprodukte konzentriert. Ziel ist ein Kreditbewertungssystem, das über finanzielle Kennzahlen hinaus auch maschinell verarbeitbare und verifizierbare Nachhaltigkeitsdaten einbezieht. Die Herausforderungen liegen in der Standardisierung dieser Metriken abgestimmt mit den Vorgaben aus Risikomanagement und gesetzlichen Anforderungen. Eine einheitliche Vorgehensweise fehlt bisher sowohl bei der Datenauswahl für das ESG-Scoring als auch bei deren technischer Beschreibung der Datenstrukturen und Integration in die Fachprozesse der Kreditwirtschaft.

4. Ausblick und Call to Action

Die Verknüpfung von digitalen Organisationsidentitäten und nachhaltigen Finanzenprozessen steckt noch in den Kinderschuhen, aber das Potenzial ist enorm. Unterstützt durch regulatorische Entwicklungen wie eIDAS 2.0, SFDR, NFDR und die EU-Taxonomie, gewinnen verifizierbare Identitäten und ESG-Metriken an Bedeutung. Diese Dynamik fördert die Effizienz und Transparenz im Finanzsektor, da Banken durch Automatisierung signifikant schneller und präziser Kreditentscheidungen treffen können. Dabei entstehen neue Angebote zur Transformationsfinanzierung und spezialisierte Finanzprodukte, die die individuellen Nachhaltigkeitspraktiken der Unternehmen berücksichtigen.

Die Schaffung der Voraussetzungen für Integrität und Automatisierung der Nutzung von verifizierbaren ESG-Metriken in der Kreditvergabe ist ein komplexes Infrastruktur-Projekt. Aufgrund der Notwendigkeit diese Voraussetzungen zu schaffen, ist jetzt ist der Moment für koordiniertes Handeln:

  • Politik: Schaffung von regulatorischen Rahmenbedingungen, die es ermöglichen, verifizierbare Prozesse für nachhaltige Finanzprodukte effektiv zu fördern.
  • Bankverbände: Förderung strukturierter und zielorientierter Entwicklung von branchenweiten Standards, um Automatisierung zu ermöglichen, Integrität der Prozesse zu erhöhen, sowie Betrug und Greenwashing zu vermeiden.
  • Banken: Ergreifen der Initiative, um verifizierte ESG-Metriken in Ihren Kreditbewertungsprozess zu integrieren und damit Transparenz und Nachhaltigkeit zu fördern.
  • Risikostrategie-Verantwortliche: Entwicklung von Risikomodellen, die sowohl finanzielle als auch nachhaltigkeitsbezogene Faktoren berücksichtigen, und deren maschinelle Verifizierung standardisieren.
  • Scoring-Prozessverantwortliche: Definition von standardisierten, verifizierbaren Scoring-Daten einschließlich der dafür notwendigen Vertrauensmodelle. Implementierung von automatisierten Systemen, die verifizierte Daten nutzen, um den Kreditbewertungsprozess effizienter und genauer zu gestalten.
  • Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK): Unterstützung der Entwicklung und Implementierung von Standards für nachhaltige Finanzprodukte.
  • Bundesministerium für Justiz (BMJ): Festlegung von Richtlinien für digitale Organisationsidentitäten als die für juristischer Personen sowie für das Unternehmensregister zuständige Behörde.
  • Bundesministerium für Finanzen (BMF): Führung bei der Schaffung von Vorgaben für Digitalisierung und Regulierung der Finanzwirtschaft im Kontext von Nachhaltigkeit und als die für das Transparenzregister zuständige Behörde.
  • BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht): Förderung regulatorischer Sandboxes für eine großangelegte Implementierung (Large Scale Pilot) für die Automatisierung von nachhaltigen Finanzprodukten sowie der Etablierung von digitalen Identitätslösungen für Unternehmen.
  • Bankkunden: Lernen über digitale Unternehmensidentitäten, Verstehen ihres Wertbeitrags für das Unternehmen und Annahme der Technologie.

Diese Entwicklung hat auch Auswirkungen über den Finanzsektor hinaus. Gesetze wie das Lieferkettensorgfaltsgesetz und die Ecodesign for Sustainable Products Regulation (ESPR) erfordern ähnliche verifizierbare Metriken. Digitale Organisationsidentitäten können daher die Effizienz und Glaubwürdigkeit in der gesamten Wertschöpfungskette steigern, von der Finanzierung bis zu den von den Unternehmenskunden angeboten Produkten und Services.

Ein weiteres relevantes Feld ist die Immobilienwirtschaft. Hier bestehen ähnliche Herausforderungen in Bezug auf Identifikation, Validierung und Autorisierung, wie in anderen ESG-relevanten Bereichen. Insbesondere bei der Transformationsfinanzierung und der Energiewende spielen verifizierbare Aussagen über ESG-Metriken, Energieausweise und individuelle Sanierungsfahrpläne (iSFP) für Immobilien eine entscheidende Rolle.

Grüne Anleihen (Green Bonds) dienen der Finanzierung umweltfreundlicher Projekte und bilden eine Brücke zwischen Finanz- und Nachhaltigkeitszielen. Da die Nachfrage nach diesen Anleihen steigt, wird die Echtheitssicherung entscheidend, um Betrug einzudämmen. Hier spielen die digitale Unternehmensidentität und überprüfbare Herkunftsketten eine entscheidende Rolle. Sie bieten einen Mechanismus zur Rückverfolgung und Überprüfung der rechtmäßigen Verwendung der Mittel. Darüber hinaus belegen überprüfbare, von externen Prüfern ausgestellte Asset-Qualitäts- und Green-Claim-Zertifikate die Umweltauswirkungen der finanzierten Projekte und reduzieren damit Risiken für Investoren. Diese Maßnahmen erhöhen insgesamt die Glaubwürdigkeit grüner Anleihen und stellen sicher, dass das aufgenommene Kapital tatsächlich in grüne Initiativen fließt. Sie schaffen Vertrauen bei Anlegern und Aufsichtsbehörden im Ökosystem der grünen Finanzierung und etablieren eines “authentisches Marktes für grüne Anleihen”.

In der Zukunft werden wir eine Verbreiterung der Anwendungsfälle für digitale Organisationsidentitäten sehen. Die Finanzindustrie könnte dabei eine Vorreiterrolle einnehmen, indem sie direkt im Anschluss eines KYC-Prozess Ihren Unternehmenskunden einen Organisations-Wallet-Service zur Verfügung stellt. Dies würde die Durchdringung digitaler Organisationsidentitäten weiter erhöhen und sie als Schlüsseltechnologie für eine nachhaltigere, regulationskonforme und effizientere Wirtschaft etablieren.

About Spherity

Spherity is a German decentralized digital identity software provider, bringing secure identities to enterprises, machines, products, data, and even algorithms. Spherity provides the enabling technology to digitalize and automate compliance processes in highly-regulated technical sectors. Spherity’s products for enterprise wallets and object identity empower cyber security, efficiency, and data interoperability among digital value chain actors.

Stay sphered by joining Spherity’s Newsletter list and following us on LinkedIn. For press relations, contact info@spherity.com.

--

--

Carsten Stöcker

Founder of Spherity GmbH. Decentralised identity, digital twinning & cloud agents for 4th industrial revolution | born 329.43 ppm